Sassicaia – Die Mega-Vertikale

30 Jahrgänge aus Magnumflaschen

Es gibt Verkostungen im Leben eines Weinkritikers, die legendär und vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes einmalig sind. Denn eine solche Mega-Vertikale von Sassicaia aus Magnumflaschen gab es und wird es wohl so schnell auf dem Planeten nicht wieder geben. Das sind Weinerlebnisse, die sich tief in das Gedächtnis eingraben. Der beste Ort, um Wein zu lagern. Vergleichbar vielleicht mit dem Live-Besuch eines Fussball-WM-Finales, wie etwa für mich das unvergessliche WM-Finale in Berlin, als Italien 2006 Weltmeister wurde. Beim Fussball lässt sich die Emotion per Video jederzeit zumindest optisch wiederbeleben. Bei so einer „Once-in-a-lifetime-Verkostung“ muss man schon die Weine tief in das Gedächtnis eingraben, und dort gegen die Vergänglichkeit schützen. Denn sage und schreibe 32 Jahrgänge des vielleicht berühmtesten Kultweines Italiens standen im vergangenen Herbst an zwei Abenden auf dem Tisch – jeweils inklusive des legendären 1985ers – dem ersten italienischen 100 Parker-Punkte-Wein überhaupt. Ich hatte die Ehre und Freude zugleich, an beiden Abenden die Weine dieser wohl unvergesslichen Probe zu kommentieren.

Das Thema war ganz einfach und doch so anspruchsvoll: Von 100 Punkten für den 2016 zum legendären 1985er. Die Idee kam vom Südtiroler Hansi Innerhofer, der Spiritus Rector des Meraner Wine Festivals und Brand Ambassador von Sassicaia in Asien. Zudem produziert der Südafrika-Auswanderer seit zehn Jahren selbst beachtliche (Cabernet Sauvignon--Weine im schönen Somerset West (Stellenbosch), wo er zudem ambitioniert kocht und auch sechs Suiten mit fantastischem Ausblick auf den Ozean für Übernachtungsgäste bereithält. Ein wahrer Garten Eden für alle Sinne.

 

„Legendär. Bewegend. Einzigartig“

 

Selten passte eine Überschrift so exakt zur Realität. Tatort dieser legendären Probe war das wunderschöne Gourmet- und SPA-Hotel Plantitscher Hof oberhalb von Meran, wo Gastgeber und Weinliebhaber Johannes Gufler einige Flaschen für die Probe aus den Tiefen seines gut bestückten und sehenswerten Kellers holte. Die anderen kamen von der Tenuta San Guido selbst, was ziemlich einmalig sein dürfte. In beiden Fällen handelte es sich also um perfekte Flaschen, weil gut gelagert und kaum bewegt. Also keine Wanderpokale, die von Spekulanten und Trophäensammlern um die halbe Welt hin und her geschippert wurden. Welch’ ein Anblick! 32 Magnumflaschen Sassicaia mit dem unverkennbaren Etikett: der in Gold strahlende Stern auf dunkelblauem Hintergrund glänzte auf 32 grosse Bouteillen, die bereit standen, um von Weinliebhabern und Experten genossen zu werden. Ein wahrlicher emotionaler Moment. Teil 1 dieser sensationellen Probe ist in der WEINWISSER-Ausgabe 03/20 ausführlich beschrieben. Für Neuabonnenten und Erstleser gibt es in den separaten Spalten zusammenfassende, für viele noch unbekannte Geschichten über die besondere und bewegende Historie von Sassicaia als Highlights (siehe das Spezial „Das Bolgheri-Wunder“ beziehungsweise die Hintergründe zu der eigentlichen „Geburtstunde“ Sassicaias im Jahre 1945).

Am ersten Abend wurden die geraden (mit Ausnahme von 2013 statt des 2014er) und am zweiten Abend die ungeraden Jahrgänge verkostet. Immer dabei waren die beiden 100-Punkte-Weine, also der 2016er und der 1985er.

Übrigens: Nicht, dass Sie sich über die Herkunftszusätze bei den Weinbezeichnungen wundern. Der Sassicaia wurde bis 1993 als Vino da Tavola (VdT) abgefüllt, da französische Rebsorten im DOC-System nicht zugelassen waren. Erst ab 1994 wurde dem Wein eine eigene DOC Bolgheri Sassicaia zugesprochen. Die Notizen der beiden 100-Punkte-Weine sind auch hier der Vollständigkeit halber noch einmal aufgeführt, da sie an beiden Abenden ausgeschenkt wurden. Interessant, aber erwartungsgemäss war dabei, dass der 1985er aus der Normalflasche nicht ganz an das Weltklasse-Niveau der Magnumflasche reichte. Ob das nur eine Flaschenvarianz war oder der Flaschengrösse geschuldet war, wurde kontrovers diskutiert.

 

Das Bolgheri-Wunder

 

Oft wird im Netz kolportiert, was oft unkritisch kopiert wird, dass der 1968er der erste Jahrgang des Sassicaia sei. Das ist insoweit richtig, dass es der erste kommerzielle Jahrgang ist, aber insoweit falsch als dass der umtriebige Sassicaia-Erfinder Mario Incisa della Rocchetta schon in den 1930er Jahren von der Idee beseelt war, einen grossen Wein „mit aristokratischem Duft nach Bordelaiser Vorbild“ zu kreieren. Er hatte in Pisa Agrarwissenschaft studiert und war in dieser Zeit oft Gast beim Grafen Salviati von Stagliano, der selbst gerne Bordeaux-Weine trank und Weinbau betrieb. In einem Brief an den grossen italienischen Weinkritiker Luigi Veronelli schrieb er 1974: „Ich trank einen Wein von dessen Weinbergen, der den unverkennbaren Duft gereifter Bordeaux verströmte.“ Von ihm soll er auch die Cabernet Sauvignon-Stecklinge erhalten haben, die er schliesslich Ende der 1930er im historischen Weinberg Castiglioncello pflanzte. Das Terroir in Bolgheri, wo er sich mit seiner dort schon ansässigen Frau Clarice della Gherardesca niederliess, erinnerte an das südlich von Bordeaux liegende Graves, was ja letztlich seinen Namen ebenfalls den Steinen im Boden zu verdanken hat.

 

1945 als Geburtsstunde des Sassicaia

 

Da damals die technischen Mittel und auch die Kenntnisse der Klone und Pflanzgenetik recht bescheiden waren, soll es Mario aber erst 1944 gelungen sein, die richtigen Stöcke gepflanzt zu haben, „weswegen wir gerne dieses Datum als Geburtsdatum des Sassicaia nehmen“, so Weingutsdirektor Carlo Paoli. Der Wein bekam damals den Namen Castiglioncello, wie die Lage, die hoch in den Bergen unweit der familieneigenen Burg Castiglioncello di Bolgheri liegt (siehe Bild) auf 386 Höhenmetern liegt. Revolutionär war dieser Schritt auch insofern, als bis dato es noch keiner gewagt hatte, Cabernet Sauvignon-Reben anzupflanzen. Geschweige denn in der sogenannten „Alta Maremma“ einen Wein nach Bordelaiser Vorbild zu keltern: Marios Cabernet aus französischen Holzfässern war ein Affront gegen alle Traditionen des italienischen Weinbaus. Daher wurde der Castiglioncello vorerst nur für den privaten Hausgebrauch getrunken, freilich als „einfacher“ Vino da Tavola. Nicht wenige sollen den ersten Jahrgängen kein gutes Zeugnis attestiert haben. Doch offenbar wurde er von Jahr zu Jahr besser. Schliesslich probierte sein bereits im Weinbusiness tätiger Cousin den 1968er Jahrgang, und fand ihn grossartig. Mario Incisa liess sich von seiner Antinori-Verwandtschaft überzeugen, den Wein zu vermarkten. Mit durchschlagendem Erfolg!

Das besondere Terroir

 

Dass es ältere Jahrgänge gibt, davon kann man sich vor Ort im Tasting Room von Sassicaia überzeugen. Dort sind nämlich in einer Vitrine die Jahrgänge 1945, 1958 und 1967 ausgestellt. Sie sollen in Marios Haus gefunden worden sein. Eine weitere Ergänzung konnte ich während eines lauschigen Mittagessens dem Gutsdirektor Carlo Paoli entlocken. „Viele denken, der Name liege nur an den vielen Steinen auf der Bodenoberfläche“, sagt er. (Sassi = Stein auf italienisch). Das sei aber nur die halbe Wahrheit. Der wahre Grund liege darin, dass bestimmte Sorten im Sassicaia-Gebiet nicht gedeihten (z.B. Canaiolo und Malvasia) und man sich fragte, warum dort diese Pflanzen nicht zur vollen Blüte gelangten. Ausgrabungen sollen dann ergeben haben, dass es an den vielen Steinen im Boden lag, die es den Wurzeln schwer machte. Daraus folgerte man später den Namen Sassicaia. Heute besteht der Blend in der Regel aus 85 % Cabernet Sauvignon und 15 % Cabernet Franc.

 

1985 Sassicaia – die Legende lebt

 

„The winner takes it all“ – der 1985er war der legendäre Star dieser vermutlich grössten Sassicaia-Verkostung aller Zeiten. Es gab an diesem Abend viele geniale Weine, gerade auch aus den unterschätzten Jahrgängen wie 1987, 1986 oder die grandiosen 2001er, 2004er, 1990er und 1998er. Doch der 1985er aus der Magnum war einfach der Superstar unter vielen Stars. Ein in jeder Hinsicht sublimer Wein: noch enorm frisch und elegant wie ein komplexer Médoc-Wein, auch wenn er selbständig und unvergleichlich genug ist, doch diese Assoziation kam mir sofort in den Sinn. Schon das erste Reinriechen löste Gänsehaut aus. Das ist die Inkarnation eines perfekten Weins.

Der erste 100-Punkte-Sassicaia, der medial eine ganze Region aus der Taufe hob und zu dem gemacht hat, was sie heute ist: ein Hotspot italienischer Kultweine. Es ist der Wein, der Bolgheris Aufstieg begründet hat und massgeblicher Katalysator für die „Supertuscan-Revolution“ war. Ein Wein, der wie kaum ein Zweiter Italiens Weingeschichte geschrieben hat. Hier ist also Teil 2 der legendären Verkostung mit den ungeraden Jahrgängen. Flüssige Weingeschichten aus vier Jahrzehnten. Inklusive dem gerade frisch verkosteten 2017er Sassicaia mit 19/20 (siehe den Sonderbeitrag)

 

Die Verkostungsnotizen der Mega-Vertikale (Moderation: Giuseppe Lauria)